Nachdenken mit Viola Raheb aus Bethlehem über Denkmauern im eigenen Kopf

Viola Raheb, palästinensische Theologin aus Bethlehem, Foto © WDPIC - Fotocollage «Mauer im Kopf», Universität Dar al-Kalima, Bethlehem, Foto © Katrin Wittwer
Viola Raheb, palästinensische Theologin aus Bethlehem, Foto © WDPIC - Fotocollage «Mauer im Kopf», Universität Dar al-Kalima, Bethlehem, Foto © Katrin Wittwer

ICH ODER ER

So beginnt der Krieg.

Doch er endet mit einer beschämenden Begegnung.

ICH UND ER

Mahmoud Darwish

Ich hatte es leicht,

als ich noch dachte, die Trennlinien im Nahostkonflikt

würden entlang ethnischer, nationaler und religiöser Grenzen verlaufen.

 

Ich hatte es leicht,

als ich noch dachte, die auf der hiesigen Seite

seien meine «Geschwister»

und die da drüben die «Feinde».

 

Ich hatte es leicht,

als ich noch dachte, in diesem Konflikt

gäbe es «Gute» und «Böse», «Opfer» und «Täter».

 

Ich hatte es leicht,

als ich noch dachte,

zwei Staaten für zwei Völker seien die Lösung,

die für beide Parteien die notwendige Grundlage böte,

ein menschenwürdiges Leben zu führen.

 

Ja, ich hatte es leicht mit einem Weltbild,

das noch leicht zu durchschauen war,

wo das Denken bisweilen keine Herausforderung darstellte,

wo man/frau nicht Teil des Ganzen war

und sich entscheiden musste, wo man/frau steht,

denn wo sonst, ausser an der Seite des «Guten».

 

Inzwischen ist mein Leben schwieriger und komplizierter geworden.

Irgendwann legte ich diese Weltanschauung ab,

ich sage bewusst «legte»,

denn es war eine bewusste Entscheidung, die ich traf.

Keine leichte,

denn eine kritische Selbstreflexion ging ihr voraus,

über Werte, die mir wichtig sind.

Menschenrechte, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Vergebung, Versöhnung …

Eine ermüdende Reise hin zu einem anstrengenden «Ich».

 

Ich weiss seitdem, dass die Trennlinien im Nahostkonflikt

entlang der unterschiedlichen Weltanschauungen verlaufen.

 

Ich weiss heute,

dass die sogenannten «Geschwister» und «Feinde»

sowohl auf der hiesigen als auch auf der dortigen Seite existieren.

In diesem Konflikt sind «Gut» und «Böse», «Opfer» und «Täter»

unendlich ineinander verwoben auf beiden Seiten,

und in einer erschreckenden Ähnlichkeit,

die fast schicksalhaft erscheint.

 

Inzwischen weiss ich,

dass die Zwei-Staaten-Lösung kein Garant dafür ist,

dass die politischen Werte, die mir wichtig sind, gewährleistet werden.

Ja, meine Einstellung zum Konflikt hat sich verändert,

aber gewiss nicht nur die.

 

Denn auch der israelisch-palästinensische Konflikt

hat sich in den letzten 65 Jahren verändert, *                                                                    * 2023 sind es 75 Jahre.

unsere «Feinde» haben sich verändert,

die Stellung der Weltgemeinschaft gegenüber dem Konflikt hat sich verändert,

und «wir», die Palästinenser:innen,

wir haben uns auch verändert,

und das alles wahrlich nicht immer zum Besseren …

 

Es bleibt eine Tatsache,

dass einige Akteure in Israel und in Palästina,

und mit ihnen gemeinsam einige internationale «Solidaritätsgruppen»,

sowohl pro-palästinensische als auch pro-israelische,

sich gemütlich eingerichtet haben in ihren unveränderten Anschauungen,

wo die Trennlinien zwischen «Gut» und «Böse» verlaufen …

und einzig sie haben es weiterhin leicht.

 

Viola Raheb

 

Text 2013 geschrieben

 

Nachdenken über Mauern im eigenen Kopf.PDF
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