Taiwanische Frauen zwischen überlieferten Pflichten und moderner Wahlfreiheit

In Asien gehört Taiwan zu den Pionierinnen in Sachen Geschlechtergerechtigkeit. Die gesellschaft­liche Situation der Frauen hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Vor dem Gesetz sind Frauen heute gleichberechtigt. Mädchen haben das gleiche Recht auf Bildung wie die Buben. Seit 2019 dauert die Schulpflicht für alle 12 Jahre. Töchter erben wie die Söhne. Bei der Heirat können Frauen wählen, ob sie ihren Namen behalten oder den ihres Partners annehmen. Sie können auch eine Frau heiraten. Ehebruch wird nicht mehr bestraft, Scheidung ist möglich. Die Geburtenrate ist eine der niedrigsten der Welt. 2010 lag sie bei weniger als einem Kind pro Frau. Taiwan altert. Frauen werden im Durchschnitt 84 Jahre alt, Männer 77,5 Jahre (2018).

Über 60 % der taiwanischen Frauen sind berufstätig und verfügen über selbstverdientes Geld. Während der japanischen Kolonialzeit haben viele Frauen ausserhalb der eigenen Grossfamilie zu arbeiten begonnen, oft als unausgebildete, schlecht bezahlte Fabrikarbeiterinnen. Heute sind viele junge Frauen sehr gut ausgebildet und auch in Kaderpositionen tätig.

Über das Wahlrecht verfügen die taiwanischen Frauen seit 1949. In der Legislative sitzen 42 % Frauen, die höchste Quote in Asien. 2016 wurde mit Tsai Ing‑wen erstmals eine Frau zur Präsidentin gewählt, und 2020 wurde sie wiedergewählt. Tsai Ing-wen hat Politikwissenschaften studiert und sich ihr Amt erarbeitet, ohne aus einem politisch mächtigen Familienclan zu kommen.

Auch der presbyterianische Kirchenrat wird von einer Frau geleitet. Pastorinnen gibt es schon seit 1949. Sogar in der katholischen Kirche gibt es indigene Kirchgemeinden, die von einer Frau geleitet werden. Frauen wie Männer engagieren sich miteinander als Laien-Apostel:innen und gestalten das lokale kirchliche Leben.

Den modernen Freiheitsrechten stehen altüberlieferte, ungleich verteilte Pflichten aus einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft gegenüber. Die verinnerlichten alten Rollenbilder verursachen viel Leid. Diskriminierung, häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe sind weit verbreitet. Indigene Frauen erleben sich als Angehörige der lange verachteten Minderheit als nicht gleichwertig. Innerhalb ihrer indigenen Gruppe ist die Stellung der Frauen in jedem Stamm anders. In der konfuzianisch geprägten Bevölkerungsmehrheit ist die Frau noch immer zuständig für die ganze Care-Arbeit, für Haushalt, Kindererziehung, die Pflege von alten und kranken Angehörigen. Sie ist die Dienerin des Mannes, zeitlebens einem Mann unterstellt, muss Söhne gebären. Diese gesellschaftlichen Normen wirken weiter, führen bei Berufsarbeit der Frauen zu enormer Mehrfachbelastung und niedriger Geburtenrate.

Die altüberlieferten konfuzianischen Pflichten schränken die durch Bildung, wirtschaftlichen Fort-schritt und moderne Rechte gewonnene neue Wahlfreiheit noch sehr ein. Viele Frauen leben gleichzeitig in mehreren Welten und tragen viel bei zur Entfaltung eines Lebens in Würde für alle.

Béatrice Battaglia

Porträts verschiedener Taiwanerinnen

 

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